Warum so ein Selfie visuell hochgefährlich ist…

Oder ist es doch nur ein harmloses, gefälliges Bildchen?

Selfie

Vielen ist nicht bewusst, dass der Fotograf eines Bildes den Betrachter durch Abstand und Perspektive visuell zwingt, eine bestimmte Haltung oder Nähe zum Motiv einzunehmen. Bei einem Selfie ist diese Nähe meistens extrem, oft unter einer halben, bestenfalls ganzen Armlänge. Und ja, es gibt natürlich Menschen und Situationen, in denen es völlig in Ordnung oder sogar erwünscht  ist, eine gewisse intime Distanz klar zu unterschreiten. Aber das ist im Business Umfeld und vielen anderen Kontexten doch eher selten der Fall,

Ein Selfie mal umgekehrt denken

Drehen wir doch mal – zumindest in unserer Vorstellung – das Bild um. Stellt euch ein Business Meeting in einem völlig überfüllten Fahrstuhl vor. Jeder, der dir etwas mitteilen will, muss dir körperlich “auf die Pelle” rücken. Empfindest du diese Nähe in diesem Kontext als passend oder angenehm? Will man Menschen wirklich immer so nahe kommen um Informationen auszutauschen?

Oder ein anderes Beispiel – du buchst einen professionellen Fotografen für ein Business Portrait. Und dieser Fotograf steht dir plötzlich auf halber Armlänge von leicht oben mit seinem fetten Objektiv, seiner riesigen Kamera und den ganzen Blitzlichtern gegenüber. Ich denke der Gedanke an Flucht liegt schnell nahe. Ich kenne ein einziges, sehr signifikantes Kunstprojekt, bei dem Regierungschefs auf diese Art und Weise ganz bewusst porträtiert wurden. Hier ging es darum, die sonst übliche Distanz zu diesen Personen bewusst so stark zu unterschreiten, dass der Betrachter wieder von alleine einige Schritte zurücktritt und unwillkürlich von sich aus auf Distanz geht.

Visuelle Nähe oder Distanz haben also eine sehr starke Wirkung auf unser Unterbewusstsein und unsere Wahrnehmung des Gegenüber.

Der Mensch bevorzugt vor allem im Umgang mit noch Unbekannten zunächst eher eine sichere Distanz. Diese Distanz muss keine Ablehnung oder Furcht bedeuten, wir wollen eher aus Interesse und Neugierde das ganze Bild in Ruhe betrachten. Bei Titelbildern von Hochglanzmagazinen verwenden Fotografen meist sehr lange Brennweiten und stehen deshalb technisch bedingt oft sehr weit weg von dem Model, Künstler oder Schauspieler. Interessanterweise verursacht diese übergroße Distanz in unserem Unterbewusstsein Neugierde. Das so gemachte Bild zieht den Betrachter magisch an, verleitet dazu näher zu treten und genauer hin zu sehen. 

Um Nähe zu erzeugen, muss die Kamera also nicht immer zwangsläufig nahe am Motiv sein, genau das Gegenteil hat in der Regel die gewünschte Wirkung.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in der klassischen Portraitmalerei anders ist als bei der modernen, digitalen Fotografie – Leonardo da Vinci hat seine berühmte Mona Lisa damals bestimmt nicht aus halber Armlänge porträtiert. Selbst AI generierte Bildnisse beruhen auf diesen einfachen Regeln. Visuelle Gesetze funktionieren immer.

Besonders sensibel, wenn auch optisch nachvollziehbar, ist beim Selfie mit dem Smartphone die vor allem bei Frauen beliebte Perspektive von (leicht bis stark) oben. Optisch werden dadurch Problemzonen verkleinert und die  Proportionen vorteilhaft gestreckt – ganz ohne Bildbearbeitung. Aber möchten wir wirklich gerne immer von oben herab gesehen werden? Damit stellen wir den Betrachter, ob er will oder nicht, immer über uns. Wir unterwerfen uns zumindest visuell.

Wer sich schon einmal mit dem Thema Körpersprache befasst hat, zumindest wenn es nach dem Experten Stefan Verra geht (den ich portraitieren durfte), weiß, dass gerade Frauen die Tendenz haben ihre Oberfläche zu verkleinern, um sich gegenüber dem Mann als harmlos darzustellen. Das ist eine Überlebenstechnik, die mit Sicherheit noch aus der Steinzeit stammt und an die Beschützerinstinkte des “starken” Mannes appelliert.

Die Frage ist nur: Will sich eine moderne Frau oder ein Mensch wirklich noch so archaisch präsentieren oder wird es nicht endlich Zeit für eine visuelle Gleichberechtigung?

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